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RegenwaldReport 04/2007

Die Denker des Dschungels

Sie küssen sich, benutzen selbst gefertigte Werkzeuge und kümmern sich liebevoll um ihre Kinder. Orang-Utans sind intelligent und empfindsam. In Asien stellt der Mensch seinen rothaarigen Vettern dennoch rücksichtslos nach. Von Gerd Schuster und Jay Ullal (Fotos)

Unyil war in einem erbärmlichen Zustand, als sie befreit wurde. Die 13-jährige Äffin wirkte sterbensmatt, völlig apathisch, und sie hustete Blut. Obwohl seit langem ausgewachsen, steckte sie noch immer in dem Babykäfig, worin ihr Besitzer, ein Oberst der indonesischen Armee, sie vor einem Dutzend Jahren gekauft hatte. Arme und Beine waren durch die Gitterstäbe gewachsen, die ihren Rumpf wie ein rostiges Folterkorsett umschlossen und ihren Kopf zu einer permanenten tiefen Verbeugung zwangen.

Monatelang hatten Suchtrupps der „Borneo Orangutan Survival Foundation“ (BOS) im Umland der Stadt Balikpapan auf Borneo nach dem Tier gefahndet. Die Affenschützer wollten es beschlagnahmen, denn in Indonesien ist es verboten, Orang-Utans zu halten. Den Aktivisten war jedoch jeder Zugang zu Kasernen verwehrt worden. Schließlich hatte der Oberst selbst bei BOS angerufen und darum gebeten Unyil abzuholen – wohl, weil er mit dem baldigen Tod seines Haustiers rechnete. Auch war der Orang-Utan im Vogelbauer viel zu siech, um weiter die ihm zugedachte Rolle eines Hanswursts und Hofnarren zu spielen.

Bis Unyil durch die Krankheit zu sehr geschwächt war, um noch als Zeitvertreib zu taugen, hatte der Oberst viel Spaß mit der Äffin gehabt. Bei abendlichen Gelagen hatten er und seine Offizierskumpane das Tier Zigaretten rauchen lassen und ihm Alkohol eingeflößt. Sie hatten gelacht, wenn es in seinem Käfig an der drei Meter langen Kette auf einer kotbedeckten Bahn betrunkene Kreise um den Feigenbaum zog, an dem die Gitterbox befestigt war. Waren die Militärs ganz besonders lustig, hatten sie Zigaretten auf der Brust der Orang-Utan-Frau ausgedrückt.

Als der BOS-Trupp Unyils Elend sah, machte sich Aktivist Udin sofort mit der Eisensäge daran, den Käfig zu zerteilen. Kaum war das geschafft, stand die Äffin auf, die beiden Käfighälften noch um Oberkörper und Unterleib, reckte sich, streckte die Arme gen Himmel und umarmte weinend ihren Befreier.

Damit ist Unyils Geschichte nicht zu Ende. Denn die Orang-Utan-Frau, die während ihres Martyriums eine frappierende psychische Stabilität bewiesen hatte, offenbarte bei ihrer Rettung erstaunliche Klarsichtigkeit. Eine jahrelang gequälte Dogge hätte sich wohl auf Udin gestürzt und ihn zerfleischt; Unyil jedoch konnte Peiniger und Befreier sehr wohl unterscheiden, und Rache kam ihr ohnehin nicht in den Sinn.

Nach den Worten der kanadischen Psychologin Anne Russon von der York-Universität in Toronto, die im BOS-Rehabilitationszentrum Wanariset forscht, rätselt die Wissenschaft, warum die roten Affen von Borneo und Sumatra trotz ungeheurer Körperkraft so „milde“ sind und so wenig nachtragend. Die Professorin bescheinigt den größten baumlebenden Tieren der Erde „einen viel komplexeren Intellekt, als wir jemals erwartet hätten“. Auch Unyil erwies sich in der BOS-Obhut als ausgesprochen klug. In Wanariset wurde sie bei ihrer Aufnahme medizinisch gründlich durchgecheckt. Die Veterinäre diagnostizierten eine offene Lungentuberkulose und wiesen die Äffin in die Isolationsstation ein, wo sie Antibiotika erhielt. An den gekachelten Wänden der Quarantäneabteilung, für sechs Monate Unyils neue Heimat, stehen die Isolationskäfige beidseits eines drei Meter breiten Ganges. Morgens bekommen die Patienten ihre Blättermahlzeit gereicht. Um den Appetit der kranken Primaten anzukurbeln, legen die Pfleger Mangos, Äpfel und andere Früchte in die Mitte des Korridors – weit außer Reichweite der langarmigen Patienten. Wer seine Ration Grünfutter verzehrt bekommt ein Leckerli.

Kaum war Unyil in der Isolierstation angekommen, begann das Naschwerk auf mysteriöse Weise zu verschwinden. Die Tierpfleger beschuldigten sich gegenseitig des Diebstahls, und es gab Streit. BOS Gründer Willie Smits, ein aus Holland stammender Bodenkundler und Tropenwaldökologe, beauftragte Udin, den Chef der Tierpfleger, den Dieb dingfest zu machen. Doch Udin war bald am Ende seines Lateins; er kam dem Mundräuber nicht auf die Schliche. Die Mangos verschwanden, vom Täter gab es keine Spur. Ratlos kletterte Udin frühmorgens aufs Dach der Isolierstation, um durch eine Ritze auszuspähen, was drinnen vor sich ging. Die Tierärzte machten ihre Visite, Medikamente wurden verteilt, die Käfige gesäubert, die Blättermahlzeit serviert und die Appetithappen ausgelegt. Alles war wie immer. Zu Udins Frust verließen sämtliche Mitarbeiter den Raum, ohne dass sich einer an den Mangos vergriff. „Hatte der Dieb gemerkt, dass er ihm auflauerte?“ fragte sich der Pflegerchef. Aber dann stand Unyil, die teilnahmslos in der Ecke ihres Käfigs gehockt hatte, auf und schaute munter umher. Sie rupfte ein paar ihrer überlangen Haarsträhnen aus, flocht daraus eine Schnur und band eine Bananenschale an deren Ende.

Sie streckte ihre Arme durch die Gitterstäbe, warf die Bananen-„Angel“ hinter die am nächsten liegende Frucht und zog sie gefühlvoll ein paar Zentimeter näher. Rutschte die Bananenschale weg, versuchte sie es erneut. Sie fischte und zupfte so lange, bis sie einen der Appetithappen mit der Hand erreichen konnte. Nachdem sie ein paar Mangos verzehrt und deren Steine sorgfältig in ihrem Klo versteckt hatte, setzte sie sich wieder in die Käfigecke und erschien so lethargisch wie zuvor.

So intelligent sind sie, die zottelhaarigen Menschenaffen aus dem Regenwald, die der englische Primatologe John MacKinnon „Vettern“ und „Mitaffen nennt. Unyil erfand nicht nur ein Werkzeug, fertigte es an, überlegte sich eine Benutzungsstrategie und setzte diese in die Tat um; sie dachte auch daran, die Mangokerne zu beseitigen, damit diese den Pflegern ihren Trick nicht verrieten. Die Kriminalgeschichte ist voller menschlicher Ganoven, die sich dümmer anstellten.

Die Lösung verzwickter Aufgaben gehört für Psychologin Russon zusammen mit Werkzeuggebrauch und Lernfähigkeit zu den wichtigsten Intelligenzbeweisen. Im Kopf der roten Affen, da ist sie sich sicher, passiert eine Menge. „Orang-Utans sind sehr geduldig und nachdenklich“, sagt sie. „Sie planen, grübeln und denken voraus. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen sie sich ihren Haltern als geistig überlegen erwiesen. Diebstähle aus dem Kühlschrank der Menschen, bei denen sie wohnten, wurden meist erst nach Tagen aufgeklärt. So lange dauerte es, bis die Halter verstanden, wie die Affen es angestellt hatten.“ Ein Affe fertigte aus einer Büroklammer einen Dietrich, mit dem er im Zoo sein Käfigschloss knackte. Da er den Nachschlüssel stets unter der Zunge versteckt hielt; kamen die Wärter ihm erst bei einem Zahnarzttermin auf die Schliche.

Unyils Geschichte hat neben Leidensfähigkeit, Erfindungsgabe und Intelligenz eine weitere Facette: Hoffnung. Denn die Affenfrau wurde nach ihrer Genesung und der nötigen Vorbereitung im BOS-Schutzgebiet Sungai Wain bei Balikpapan freigelassen. Sie hat sich in dem rund 10.000 Hektar großen Dschungelareal gut eingelebt und schon zwei kleinen Äffchen das Leben geschenkt.

Zahlreiche weitere Affenschicksale finden sich in dem neuen Buch „Die Denker des Dschungels“. Sie erzählen von Leid, Verschleppung, menschlicher Grausamkeit, aber auch von beinahe unglaublicher Intelligenz und Vernunft der roten Affen, von der Rettung geschundener Tiere und von ihrer erfolgreichen Auswilderung. Die Berichte, denen eine ausführliche Beschreibung der Lebensweise und des Verhaltens der Orang-Utans vorangeht, verdeutlichen die Wesensart der Primaten – wissenschaftlich korrekt, aber ohne die Scheuklappen der Zoologie. Die tut sich immer noch schwer, unseren Vettern aus dem Dschungel geistige Fähigkeiten und menschenähnliche Emotionen zuzugestehen.

Das Buch belegt den Altruismus, die Uneigennützigkeit, der roten Affen ebenso wie ihren Schönheitssinn, ihre Eitelkeit und ihre Kreativität. Und es zeigt, wie beschämend wenig wir über die Orang-Utans wissen.

Unwissenheit ist schuld, wenn einige der Zeugenberichte über Unyils Artgenossen wie Münchhausiaden klingen. Etwa die Geschichte der Äffin Uce, die für Stern-Fotograf Jay Ullal posierte, ihre Polaroidporträts mit langem Arm und strengem Blick einforderte, sie gemeinsam mit ihrem Baby Matahari entzückt bestaunte, die Sofortbilder glücklich an ihr Herz drückte, küsste und die Lippenfeuchtigkeit an ihrem „Ärmel“ abwischte. Da die Konterfeis beim Klettern störten, gab sie die Bilder einem BOS-Wildhüter in Verwahrung, dessen Hütte ganz in der Nähe lag. Sie hat sie seither regelmäßig bei ihm angeschaut. Oder die vom großen Orang- Utan-Pascha mit den Backenwülsten, dem die indonesische Biologiestudentin Suci Utami auf seiner Wanderung durch den Regenwald folgte, um sein Verhalten für ihre Dissertation zu dokumentieren. Der Revierchef gab in den Monaten seiner „Beschattung“ nie zu erkennen, dass er die Wissenschaftlerin bemerkt hatte. Als jedoch zwei illegale Holzfäller über die junge Frau herfielen und sie vergewaltigen wollten, stieg er von seinem Baum herab und schlug die Übeltäter in die Flucht. Suci Utami ist heute Professorin in Jakarta.

Oder die Geschichte der zum Gerippe abgemagerten Affenmutter, die sich während der katastrophalen Waldbrände auf Borneo durch den beißenden Qualm zu einer Straße durchkämpfte. Der Rauch verdunkelte den Himmel so, dass die meisten Bäume ihre Blätter abgeworfen hatten. Deshalb hatte die Äffin lange nichts mehr gegessen, und ihre Milch war versiegt. Sie legte ihr halb verhungertes Baby auf die Fahrbahn und wartete, bis ein Lkw- Fahrer anhielt und es mitnahm. Dann drehte sie sich um und ging in den brennenden Wald zurück.

Willie Smits: „Die Mutter des Babys wusste, dass die Menschen, die sie aus ihrem Wald vertrieben hatten, nicht hungerten. Gut möglich, dass sie gesehen hatte, wie sie aßen und tranken. Also tat sie das Unfassbare: Sie gab ihr Baby dem Feind, damit es eine Überlebenschance hatte. Wenn sie schon sterben musste sollte wenigstens ihr Kind überleben. Welch ein Opfer, welcher Altruismus! Und welche Weisheit!“ Affenmütter, die von einem Wilderer hoch oben im Geäst angeschossen werden, reagieren oft ähnlich selbstlos.

Der BOS-Gründer: „Mir ist oft berichtet worden, dass sie mit dem letzten Lebensfunken auf den Boden herabklettern, sich somit ihrem Mörder nähern, damit ihrem Baby der tödliche Sturz aus 30 oder 40 Meter Höhe erspart bleibt!“

Smits hat das Buchprojekt vorangetrieben, weil die Orang-Utans keine Lobby haben und die Welt tatenlos zusieht, wie sie ausgerottet werden.

Von den etwa 69.000 Tieren, die es laut einer Schätzung 2004 noch gab, müssen jedes Jahr etwa 6.000 ihr Leben lassen. Smits glaubt, dass es in Wahrheit kaum noch mehr als 40.000 rote Affen gibt. Wichtigste Todesursachen sind Regenwaldvernichtung, vor allem für die Produktion von Palmöl, und Wilderei.

Nach Überzeugung des BOS-Chefs wird es sich bitter rächen, dass die Menschheit das Blutbad unter den Orang-Utans ignoriert: Durch ihre Indifferenz sägt sie den Ast ab, auf dem sie sitzt. Denn indem sie die roten Affen skrupellosen Holz- und Palmölbaronen und ihren korrupten Spießgesellen in Militär, Polizei und Regierung ausliefere, lasse sie die wirksamsten und gleichzeitig kostengünstigsten Möglichkeiten zur Verringerung des globalen CO2-Ausstoßes außer Acht.

Willie Smits belegt, dass Orang-Utan-Schutz Menschenschutz ist. Am Beispiel des Mawas-Gebietes, eines rund 500.000 Hektar großen Areals weitgehend unberührten Sumpfregenwalds in der Provinz Zentral-Kalimantan, rechnet er vor, wie das Schicksal eines uns unbekannten Urwaldstücks unsere Bemühungen zum Klimaschutz begünstigen oder durchkreuzen kann – in einem Maße, wie wir Europäer es offenbar nicht wahrnehmen wollen. BOS will 364.000 Hektar des Waldgebiets zu einem Nationalpark machen, zum Schutz der Umwelt und als sicheren Lebensraum für den Orang- Utan. Alle hätten etwas davon – bis auf die Abholzer. Smits: „In vielen Jahrtausenden haben sich im Mawas-Gebiet Torfschichten.gebildet, die bis zu 18 Meter dick sind. In ihnen ist so viel Kohlenstoff gespeichert, dass bei ihrer Verbrennung rund 3,5 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre gepustet würden: Im Vergleich zu den Euro-Milliarden, die die deutsche Industrie ausgeben soll, damit eine vergleichsweise unbedeutende CO2-Tonnage eingespart werden kann, würde der Schutz der Mawas-Wälder nur Almosen kosten. Rund ein Drittel der globalen Kohlenstoffreserven ist, so Smits, in Torfsümpfen gespeichert. Jedes Jahr bilden die indonesischen Sumpfwälder. aus zu Boden fallenden Blättern und anderem organischen Material ein bis zwei Millimeter Torf neu.

Nimmt man einen Millimeter als Ausgangswert, sind das pro Jahr und Hektar (10.000 Quadratmeter) insgesamt zehn Kubikmeter Torf. Da dieser zu rund 90 Prozent aus Wasser besteht, verbleiben zehn Prozent organisches Material, das sich etwa zur Hälfte aus Kohlenstoff zusammensetzt. Macht pro Hektar und Jahr eine halbe Tonne Kohlenstoff oder 1,84 Tonnen CO2.

Rundet man das der Einfachheit halber auf zwei Tonnen CO2 auf, so speichern die 500.000 Mawas-Hektar (rund die Hälfte davon ist wachsender Torf) jährlich eine Million Tonnen CO2. Die Provinz ZentralKalimantan, in der es rund zwölf Millionen Hektar Torfsumpf gibt, zöge 24 Millionen Tonnen C02 aus dem Verkehr – ganz ohne Kosten.

Wenn man diese zwölf Millionen Hektar Torfsumpf aber nicht als Kohlenstoffdepot erhält, sondern – unter gnadenloser Ausrottung der roten Affen – für schnelle Dollar in Ölpalmenplantagen umwandelt, entfesselt man laut Smits „eine Katastrophe“: „In diesen Pflanzungen werden jährlich etwa zwölf Zentimeter Torf durch Mikroorganismen in CO2 umgewandelt«, sagt der Experte. „Damit würden nach und nach rund 84 Milliarden Tonnen Treibhausgase in die Atmosphäre zischen!

„Das stimmt leider!“ sagt Dieter Teufel. Der Chef des Heidelberger Umwelt Prognoseinstituts UPI hat Smits‘ Rechnung überprüft und für „absolut sauber“ befunden.

Was bedeuten 84 Milliarden Tonnen CO2? Sie entsprechen, so Teufel, knapp dem Hundertfachen der jährlichen CO2- Emissionen Deutschlands (knapp 900 Millionen Tonnen), dem 14-fachen der Emissionen Europas und dem Dreifachen des CO2-Weltausstoßes von 2004 (28,2 Milliarden Tonnen). Wer das einmal verstanden hat, weiß auch: Die roten Affen von Borneo brauchen dringend unsere Solidarität – sie liegt im ureigensten Interesse der Menschheit.

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